Will man die wichtigste Methode der Wahrsagerei in Tibet erkunden, kommt man um die Sinotibetischen Divinationskalkulationen nicht herum. Bei allen wichtigen Anlässen im Leben ließ ein Tibeter bei den Astrologen glückverheißende Termine für Feiern, Taufen, Hochzeiten, Geschäfts- oder Pilgerreisen oder Krankheitsverläufe errechnen. Die Sinotibetischen Divinationskalkulationen sind als Unterdisziplin der Tibetischen Kalkulationswissenschaft zu verstehen. Unterschieden werden müssen sie allerdings von der Tibetischen Astrologie, die eine eigenständige Wissenschaft darstellt. Die Sinotibetischen Divinationskalkulationen beziehen sich auf die Fünf-Elemente-Theorie, die aus China nach Tibet kam. Es geht hierbei um die Beziehungen zwischen den fünf Elementen: dem Feuer, dem Wasser, dem Holz, der Erde und dem Eisen. Nach chinesischer Vorstellung waren Zeit und Raum auf sie bezogen und setzten sich aus ihnen zusammen. Die Fünf-Elemente-Lehre wirkt bis heute in chinesischen Vorstellungen zur Ernährung und Anderem fort.
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Die Sinotibetischen Divinationskalkulationen
Diese Lehren entstanden zur Zeit der sogenannten Yarlung Dynastie, die vom 7. bis 9. Jahrhundert n. Chr. von China aus nach Tibet kam. In Tibet entwickelten sie sich in eigenständiger Form fort. Besondere Bedeutung erlangten sie im 17. Jahrhundert, als die Herrschaft des 5. Dalai Lama mit seinem damaligen Regenten Sanggye Gyatso anstand. Die westliche Forschung meinte später, man müsse die Sinotibetischen Divinationskalkulationen als „Schwarzes Rechnen“ bezeichnen und in den Bereich der Schwarzen Magie verweisen, um sie von buddhistischen Kalkulationsarten zu trennen. Dieses Missverständnis entstand als Übersetzungsfehler. Man bezeichnete die Sinotibetischen Divinationskalkulationen damals als „Nag-tsi“, und nagpo bedeutet schwarz. Es kann aber auch etwas ganz Anderes bedeuten, wenn es eine Abkürzung ist. Im tibetischen Kalenderjahr ordnete man jedem Jahr, Monat oder Tag sowie den vier Himmelsrichtungen eines oder auch mehrere dieser Elemente zu. Ähnlich tat man es mit den Himmelsphänomenen. Bei den Berechnungen bezog man diese Konstellationen auf menschliche Grundinteressen wie materiellen Wohlstand, Gesundheit, Lebensdauer oder die Frage nach dem Glück. Man konnte nun Fragen beantworten, die sich auf den perfekten Termin für eine lange Pilgerreise bezogen oder den Bestand der Yakherden zu einer bestimmten Zeit betrafen. Der glückliche Ausgang von Handelskarawanen nach Indien wurde ebenso hinterfragt wie der Verlauf einer schweren Erkrankung.
Die Fünf Elemente in der Sinotibetischen Divinationskalkulation
Das Verhältnis der Fünf Elemente untereinander kann positiv, neutral oder negativ sein. Wasser gilt beispielsweise als „Feind“ des Feuers. Aufgrund solcher Konstellationen konnten die Berufenen Relationen bestimmter Dinge zueinander berechnen und eine Prognose abgeben. Was nach unserem Verständnis als das Jahr 1942 benannt wird, ist für den Tibeter ein Erde-Pferd-Jahr gewesen. Möchte man eine Frage stellen, die ein späteres Lebensjahr einer in diesem Jahr geborenen Person betrifft – beispielsweise das sechste Lebensjahr oder nach Tibetischem Kalender ein Wasser-Schwein-Jahr – kann man im Vergleich Beider die Entwicklung in den Gebieten Gesundheit, Glück, Lebensenergie oder Wohlstand berechnen. Dazu braucht es allerdings einen Schlüssel. Die Entwicklung dieser Lehren schreiben die Tibeter mystischen Ursprüngen zu. Sie wird erst später von Menschen in die Hände genommen und weitergeführt. Dazu übersetzte man zunächst chinesische Schriften ins Tibetische, um dann eigene Interpretationen hinzuzufügen. Bedeutend wurden die Sinotibetischen Divinationskalkulationen unter dem 5. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso. Er nämlich erwies ihnen die Gnade, zukünftig als von Buddha gelehrte Wissenschaften angesehen zu werden. Sein Regent verfasste ein Standardwerk zum Thema, das bis in die Neuzeit galt. Praktiziert and angewendet wurden die Lehren vor allem im Volk und in der Sekte der Nyingmapa. In den anderen buddhistischen Sekten galten sie lange als unbuddhistisch.